Wie sehen die Filme von morgen aus? Max Wiedemann ist Co-Founder von LEONINE Studios und Geschäftsführer von W&B Television und Wiedemann & Berg Film. Die in Deutschland führende Filmproduktion ist unter anderem verantwortlich für den 2007 mit einem Oscar® ausgezeichneten „Das Leben der Anderen“ oder den internationalen Streaming-Erfolg „Dark“.
The Decoder: Wie setzt LEONINE aktuell KI ein?
Max Wiedemann: Wir haben LeoChat etabliert, unsere firmeneigene interne Plattform, die auf die aktuell relevantesten generativen Foundation-Modelle zugreift.
The Decoder: Interessant. Wie kam das zustande? Habt ihr das selbst entwickelt?
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Max Wiedemann: Wir haben ein Open Source Modell adaptiert. Unser Ziel war, allen Mitarbeitenden Large Language Models zur Verfügung zu stellen und mit Blick auf die Kosten angesichts unserer großen Anzahl an Mitarbeiter*innen anstelle einer nutzerbasierten Abrechnung eine nutzungsbasierte Abrechnung zu etablieren. Zudem wollten wir Zugriff auf verschiedene Modelle wie OpenAI und Claude über API-Calls ermöglichen.
The Decoder: Wie können eure Mitarbeiter die KI-Modelle nutzen?
Max Wiedemann: Large Language Models stehen – wie gesagt – allen Mitarbeitenden zur Verfügung. Wir arbeiten aber auch mit anderen Tools, die wir selektiv anwenden – hier kommt es auf den internen Austausch zwischen den Fachbereichen und unserem Manager für KI-Strategie und Implementierung an, die gemeinsam neue Tools und spezielle Anwendungsmöglichkeiten identifizieren und testen. Um unseren Mitarbeitenden einen sicheren Rahmen für die Nutzung zu bieten und Rechte, wie Urheberrecht, Markenrecht, Persönlichkeitsrechte, etc. für die unterschiedlichen Gewerke in der Filmproduktion zu wahren, war für uns von Anfang an eine klare Nutzungsrichtlinie eine wichtige Voraussetzung im Umgang mit KI. Diese Richtlinie erläutert u.a., welche KI-Tools bedenkenlos genutzt werden dürfen und was man bei der Ein- und Ausgabe beachten muss. Neben Governance und technischem Zugang bieten wir auch interne Trainings an, damit die Mitarbeitenden in die Lage versetzt werden, möglichst effektiv mit den Tools umgehen zu können.
The Decoder: Wie wird das von den Mitarbeitern angenommen?
Max Wiedemann: Unsere KI-Workshops und Trainings werden unfassbar gut angenommen. Unsere Mitarbeitenden sehen darin eine echte Chance, ihre Fähigkeiten zu erweitern. Es ist beeindruckend, welchen positiven Einfluss KI-Tools auf die Produktivität haben können und wie man sie als Inspirationsquelle nutzen kann. Es ist eine kraftvolle Ergänzung in der Arbeitswelt.
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“Es gibt beeindruckende Beispiele wie […] die kreative Arbeit mit Stoffen ein neues Level erreicht”
The Decoder: Kannst du ein paar konkrete Anwendungsfälle nennen?
Max Wiedemann: Die Anwendungsfälle sind so breit wie bei Textverarbeitung oder Outlook – das erstreckt sich auf alle Bereiche und Abteilungen – der Mehrwert ist individuell. Es gibt beeindruckende Beispiele wie die Zusammenfassung von Drehbüchern vereinfacht wird oder die kreative Arbeit mit Stoffen ein neues Level erreicht. Nicht auf Autopilot, sondern als Tandem zwischen Mensch und Maschine. KI ist deshalb für uns auch kein eigenständiger neuer Bereich, er betrifft das gesamte Unternehmen. Wir haben KI-Botschafter*innen in jedem Bereich, die mit unserer KI-Abteilung im Austausch über potenzielle Use Cases stehen. Wo sinnvoll multiplizieren wir unternehmensweit erfolgreiche Use Cases aus einem Bereich auf alle anderen Bereiche.
The Decoder: Hast du besondere Beispiele, wo dich Mitarbeiter mit Anwendungen überrascht haben?
Max Wiedemann: Was mich beeindruckt hat, ist, wie gut die Modelle inzwischen ein kontextuelles Verständnis für Stoffe entwickeln können. Wir haben Tests mit Drehbüchern gemacht, bei denen wir die KI nach dem Glückswert der Hauptfigur auf einer Skala von -10 bis +10 in jeder Szene gefragt haben. Die Antworten zeigten teilweise ein echtes Verständnis für Plot und Figuren. Die Drehbücher waren nicht Public Domain, können also nicht Teil eines Trainingsdatensatzes gewesen sein, dessen Story die KI bereits analysiert hat. In unseren Testfällen hat die KI aus dem Kontext der Drehbücher diese Erkenntnis gewonnen. Man muss das jedoch relativieren, KI halluziniert immer noch und wenn kein Mensch mit den entsprechenden Fähigkeiten die Ergebnisse bewertet, wird man auch in Summe keine zufriedenstellenden Ergebnisse bekommen. Aber wenn beides aufeinandertrifft, jemand der seinen Job versteht und weiß mit der KI umzugehen, kann die Produktivität und Kreativität stark erweitert werden. Und bei all dem muss man natürlich berücksichtigen, dass die Entwicklung noch ganz am Anfang steht.
The Decoder: Wie siehst du die optimale Zusammenarbeit zwischen KI und Mitarbeitern in der Filmbranche?
Max Wiedemann: Für mich ist es in vielen Bereichen ein fester Bestandteil der täglichen Arbeit, so wie die Nutzung eines Computers oder eines Handys. Es gibt eine belastbare Studie der Harvard Business School, die zeigt, dass Teams mit KI-Unterstützung 25 % schneller zum Ziel kommen und dabei 40 % bessere Ergebnisse erzielen. Die maximale Traktion entsteht aus einer Kombination von qualifizierten Menschen und KI. Wie es sich weiterentwickelt, ist schwer vorherzusagen. Viele Prognosen sind mit Vorsicht zu genießen.
The Decoder: Wie setzt ihr KI in der Filmproduktion ein?
Max Wiedemann: Aktuell nutzen wir KI vor allem in der Vorproduktion. Man muss zwischen dem transformativen und dem disruptiven Teil der Technologie unterscheiden. Transformativ unterstützt KI in allen Bereichen der bisherigen Filmproduktion – von der Ideenfindung über die Arbeit mit Stoffen bis hin zu visuellen Konzepten. KI könnte das Filmemachen aber auch disruptiv, d.h. grundlegend verändern. Ein Ansatz ist generative KI für Bewegtbilder, wo wir aber noch am Anfang stehen, da es an Qualität, Konsistenz und Kontrolle mangelt. Es gibt aber erste Projekte in Werbung, Musikvideos und Animation. Der andere Weg ist die Verlagerung der physischen Dreharbeiten in die virtuelle Welt, Game Engines spielen hier eine Schlüsselrolle. Auch hier gibt es faszinierende KI getriebene Innovationen. Wir sind aber noch weit davon entfernt, dass Schauspieler*innen ersetzt werden.
The Decoder: Betreibt ihr selbst Forschung in dem Bereich?
Max Wiedemann: Wir beobachten die Entwicklungen sehr genau und sind auch selbst aktiv, aber ich kann noch keine Details nennen.
“Es ist sinnlos Angst davor zu haben, man muss neue technische Möglichkeiten umarmen, das hat die Film- und Fernsehbranche bisher auch immer erfolgreich getan”
The Decoder: Was hältst du von Tyler Perrys Entscheidung, sein 800-Millionen-Dollar-Studio-Projekt nach der Vorstellung von OpenAIs Sora zu canceln?
Max Wiedemann: Man muss das differenziert betrachten. Sora war ein Sprung in der Qualität und Konsistenz, aber nicht in der Kontrolle. Kreative Kontrolle ist aber entscheidend für Filmschaffende. Für mich ist die klassische Art und Weise, wie wir Filme herstellen, noch nicht überholt. Aber wir müssen das Thema auf allen Ebenen mitdenken. Es ist sinnlos Angst davor zu haben, man muss neue technische Möglichkeiten umarmen, das hat die Film- und Fernsehbranche bisher auch immer erfolgreich getan, denn nichts ist dieser Branche so eigen wie der permanente technische Fortschritt. Man kann sich anschauen, wie das vor über 100 Jahren angefangen hat, wo wir heute stehen und welche technischen Innovationen im Laufe dieser Jahre unsere Branche wieder und wieder transformiert haben. Und es hat bisher immer zu einer Vergrößerung des Volumens und der Qualität geführt. Also wüsste ich nicht, warum wir jetzt vor dieser technischen Innovation Angst haben sollten.
The Decoder: Wie bewertest du ethische Fragen wie den Einsatz von Trainingsdaten oder den möglichen Verlust von Arbeitsplätzen?
Max Wiedemann: Das sind große Fragen, die weit über ein einzelnes Medienunternehmen hinausgehen. Wir stehen vor der Fragestellung: Utopie oder Dystopie. In der Utopie schaffen wir Werte und Dienstleistungen in bisher unvorstellbarem Ausmaß bei minimalem Ressourceneinsatz und verteilen den Wohlstand fair. In der Dystopie konzentriert sich die Macht bei wenigen Superunternehmen. Beim Thema Trainingsdaten brauchen wir in der EU einen klaren Ansatz. Das aktuelle Opt-Out-Modell halte ich für nicht praktikabel, da es faktisch kaum gelebt wird. Ein erster Schritt wäre Transparenz: Unternehmen müssen offenlegen, mit welchen Daten ihre Modelle trainiert wurden. Im nächsten Schritt könnte man über Vergütungsmodelle ähnlich der GEMA nachdenken.
“Talent und Qualifikation bleiben entscheidend”
The Decoder: Welche Ratschläge würdest du jungen Filmemachern geben?
Max Wiedemann: Talent und Qualifikation bleiben entscheidend. Es macht immer noch Sinn, einen kreativen Beruf zu erlernen und darin gut zu werden. Gleichzeitig wird es immer wichtiger, sich permanent weiterzubilden und mit KI-Tools umgehen zu können. Lebenslanges Lernen wird noch stärker zum festen Bestandteil jedes Berufslebens.
The Decoder: Wie nimmst du die Resonanz auf KI in der Branche wahr, auch im Vergleich zwischen Europa und den USA?
Max Wiedemann: Ein Großteil der KI-Innovation kommt aktuell aus Amerika, gefolgt von China. In Deutschland und Europa spürt man noch nicht so viel davon. Das hängt auch mit der Start-up-Kultur und der Risikobereitschaft zusammen. In den USA wird in ganz anderen Dimensionen in solche Technologien investiert.
The Decoder: Wo siehst du positive Zukunftsvisionen für den Einsatz von KI in der Filmbranche?
Max Wiedemann: Ich bin Optimist per Default und sehe deshalb immer eine positive Zukunft. Man muss das Positive auch vor Augen haben, damit man gezielt darauf hinwirken kann. Und nach wie vor glaube ich, dass das Talent und kreative Fähigkeiten die Schlüsselqualifikationen zur Kreation außergewöhnlicher Filme und Serien sein werden. Im Musikbereich kann man heute mit einem iPad machen, wofür man in den 90er Jahren noch ein top ausgestattetes Tonstudio gebraucht hat. Und trotzdem gibt es die großen Künstler*innen, trotzdem gibt es die Superhits. Ich glaube, dass das Publikum unterscheiden kann, ob sich etwas wirklich abgrenzt, als etwas Sehenswertes oder Hörenswertes. Und deshalb bin ich der Ansicht, dass auch Filmschaffende in den meisten Disziplinen, die wir momentan sehen, weiterhin eine Zukunft haben werden – unter der Voraussetzung, dass sie sich mit diesen Technologien auseinandersetzen und sie dazu nutzen, besser zu werden. Und einige Berufsbilder werden sich ändern, das war auch schon immer so, geht jetzt nur alles sehr viel schneller. Vielleicht wird ein Schauspieler in Zukunft einen Virtual Buddy haben, der das Drehbuch mit ihm zusammen durchgeht und am Anfang eines Drehtages die inhaltliche Abfolge der Szenen durchspricht, die Gemütslage der Figur erläutert und auf Besonderheiten hinweist oder die KI dazu genutzt wird Verbesserungsvorschläge in Bezug auf die Darstellung zu machen. Ich kann mir vorstellen, dass das eine ganz tolle Form von Ergänzung und Sparring in allen Bereichen wird und wir so noch mehr Spaß bei der Arbeit haben.
The Decoder: Gibt es einen KI-Film oder eine KI-Geschichte, die dich besonders bewegt hat?
Max Wiedemann: Es gibt viele Filme, die sich auf verschiedene Weise mit dem Thema auseinandergesetzt haben – von „Wall-E“ über „I, Robot“ und „Terminator“ bis hin zu „Her“ – jeder zeigt einen anderen Aspekt. Mit den jüngsten Entwicklungen in der Sprachtechnologie rücken wir der Vision aus „Her“ immer näher. Es wird spannend zu sehen, wie sich das weiterentwickelt. Und als positive Zukunftsvision würde ich Data aus „Star Trek“ sehen.
The Decoder: Planst du selbst KI-Themen in zukünftigen Produktionen aufzugreifen?
Max Wiedemann: Ja, wir sehen jetzt schon viele Near-Future-Szenarien, in denen KI eine Rolle spielt. Filme und Serien sind immer auch ein Spiegel des Zeitgeistes, und KI hat einen großen Einfluss auf unsere Kultur. Daher werden wir das Thema in verschiedenen Formen in unseren Produktionen reflektieren. Konkrete Projekte kann ich noch nicht nennen, aber KI wird definitiv eine Rolle in unseren zukünftigen Produktionen spielen.