Nur eine große Überraschung kann Merz die Kanzlerschaft noch nehmen. Er ist ein Produkt von Zufällen und Zwängen, Profiteur und Opfer der Brandmauer gleichzeitig. Seine Unberechenbarkeit ist geradezu seine Machtbasis geworden – doch wo landet die Roulette-Kugel, wenn das Rad zu Ende gedreht hat?
von Marie Rahenbrock
Friedrich Merz hat eine bemerkenswerte Karriere in der Politik hingelegt – es ist eine ewige Zickzack-Linie, politisch und persönlich. Vom gewissermaßen ewigen Zweiten wurde er jetzt zum Kanzlerkandidaten seiner Partei, durch eine merkwürdige Kette aus Zufällen und Zwängen. Seine Karriere verlief so: Von 1994 bis 2009 war er Mitglied im Bundestag. Von 2000 bis 2002 war er Vorsitzender der CDU-Bundestagsfraktion. Jedoch konnte er sich gegen seine damalige Konkurrentin Angela Merkel nicht durchsetzen. 2002 hatte Merkel den CDU-Parteivorsitz inne und beanspruchte den Posten der Vorsitzenden der Bundestagsfraktion für sich. Dafür hatte sie mit dem CSU-Politiker Stoiber eine Abmachung getroffen: Er wird Kanzlerkandidat, sie wird Fraktionsvorsitzende, unabhängig davon, wie die Wahl ausgeht.
Das fasste Merz als Verrat von Merkel auf, da eigentlich gemeinsam mit Stoiber nach der Bundestagswahl hätte entschieden werden sollen, wie es weitergeht. Merz wurde zum stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden gewählt, was einer Degradierung gleichkam. Zwei Jahre später legte Merz das Amt des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden nieder. 2009 schied er aus dem Bundestag aus.
Danach folgten mehrere Jahre der Arbeit in der Wirtschaft. Von 2016 bis 2020 war er Aufsichtsratsvorsitzender von BlackRock in Deutschland. 2020 legte er seinen Posten als Aufsichtsratsvorsitzender nieder, um sich politisch mehr zu betätigen.
Bereits 2018 hatte Merz Ansprüche auf den CDU-Parteivorsitz erhoben. Im zweiten Wahlgang erhielt er 48 Prozent der Stimmen und verlor gegen Annegret Kramp-Karrenbauer. Damit wurde Kramp-Karrenbauer nach achtzehn Jahren Merkel die nächste CDU-Vorsitzende. Schon 2018 wurde immer wieder der Vorwurf gegen ihn lanciert, er sei aus der Zeit gefallen. So schrieb der Spiegel damals: “Es wirkt bisweilen, als wäre Friedrich Merz von einer Zeitmaschine im Spätherbst 2002 in der deutschen Politik eingesammelt und im Spätherbst 2018 wieder dort ausgesetzt worden.”
Ausgerechnet Kramp-Karrenbauer sollte das Neue verkörpern, ohne freilich, dass es ein Bruch mit der Merkel-Ära war. Nachdem Annegret Kramp-Karrenbauer den Parteivorsitz 2020 abgab, wurde beim nächsten Bundesparteitag Armin Laschet gewählt. Auch 2021 präsentierte sich Merz als Verkörperung von Aufbruch und stilisierte Laschet als ein “Weiter so” in der CDU-Programmatik. Doch er unterlag. Nachdem die Union bei der Bundestagswahl 2021 nur 24 Prozent der Stimmen erhielt und damit das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte einfuhr, gab Laschet den Parteivorsitz ab. Merz kündigte zum dritten Mal an, für den Parteivorsitz zu kandidieren. Er wurde gewählt, weil er der letzte war, der übrig blieb – eher als eine Art Übergangskandidat in der Krise. Man sagte, er sei zu alt, um Kanzlerkandidat zu werden; er wäre dann 70 Jahre alt. Dieses Mal jedoch wurde er mit 94 Prozent der Stimmen gewählt. Das galt als Signal des Aufbruchs. Die CDU soll unter ihm wieder konservativer werden. Die CDU sollte unter ihm ihre Oppositionsrolle annehmen, so forderte er.
Im Mai dieses Jahres wurde Merz mit 89 Prozent zum Parteivorsitzenden wiedergewählt. Nun ist er Kanzlerkandidat der Union – weil Wüst und Söder sich gegenseitig neutralisierten und alle mit dem Zickzack-Kurs von Merz ihren Frieden gemacht haben. Es ist kein Weiter-So, aber auch keine klare Abkehr von der Merkel-CDU, vielmehr eine Wundertüte, unter der sich alle sammeln können: und jeder Flügel hofft, dass es nach einem Wahlsieg in seinem Sinne weitergeht.
Merz‘ Prinzip passt hier insofern perfekt: Er fordert etwas, es gibt Kritik, er rudert zurück. Immer wenn man denkt, er macht gerade vieles richtig, enttäuscht er den konservativen Wähler – immer wenn der konservative Wähler die CDU verloren gibt, trumpft Merz mit einer starken Position auf.
Alles läuft auf die Grünen hinaus – und alles spricht dagegen
Beispielhaft dafür steht sein Umgang mit der Migrationspolitik und der AfD. Nach dem Anschlag von Solingen sagte er am 27. August, dass er in Bezug auf das Asylrecht auch für eine Änderung des Grundgesetzes offen sei und forderte einen Aufnahmestopp von syrischen und afghanischen Flüchtlingen. Nach Kritik nahm er die Aussage über eine mögliche Änderung des Grundgesetzes zurück und sprach davon, dass es ihm nur um einen „faktischen Aufnahmestopp“ ginge.
In Bezug auf die AfD änderte er seine Meinung zur Zusammenarbeit auf kommunaler Ebene. So sagte er im ZDF Sommerinterview 2023, dass er eine Zusammenarbeit mit der AfD auf Länder- und Bundesebene ausschließe. Würde jedoch ein Bürgermeister oder Landrat der AfD gewählt werden, müsse man vor Ort schauen, wie man weiterarbeiten kann, damit es nicht zu einem Stillstand komme. Dafür erhielt er heftige Kritik, auch aus der Union. So lehnte CSU-Chef Markus Söder eine Zusammenarbeit mit der AfD auch auf kommunaler Ebene ab, ebenso wie NRWs Innenminister Herbert Reul (CDU).
Einen Tag später distanzierte sich Merz bei Twitter von sich selbst: Es werde auch auf kommunaler Ebene keine Zusammenarbeit mit der AfD geben. Jüngst sagte Merz, dass das Wort “Brandmauer” der CDU/CSU in der Diskussion um die AfD gegen ihren Willen aufoktroyiert worden sei, dabei hatte er im Dezember 2021 nach seiner Wahl zum Bundesvorsitzenden der CDU gesagt: „Mit mir wird es eine Brandmauer zur AfD geben. Die Landesverbände, vor allem im Osten, bekommen von uns eine glasklare Ansage: Wenn irgendjemand von uns die Hand hebt, um mit der AfD zusammenzuarbeiten, dann steht am nächsten Tag ein Parteiausschlussverfahren an.“
Überhaupt wird die “Brandmauer” wahrscheinlich die Schicksalsfrage der politischen Karriere von Friedrich Merz. Bleiben die Umfrage-Werte in etwa wie sie sind, und passiert nichts Unvorhergesehenes, so wird die CDU/CSU stärkste Kraft mit über dreißig Prozent, die AfD zweitstärkste Kraft. Die FDP würde aus dem Bundestag fliegen, das BSW einziehen. An einem Bundeskanzler Merz führt dann kein Weg vorbei – er hätte dann die Wahl zwischen einer Koalition mit den Grünen oder mit der SPD, die Brandmauer zwingt ihn dazu. Auch das BSW bezeichnete Merz im Juni als links- und rechtsextrem zugleich und lehnte daher eine Zusammenarbeit ab. Gleichzeitig wird man im Osten höchstwahrscheinlich koalieren. Die SPD ist eine Zeitbombe, intern zerfressen und radikalisiert, nur die Kanzlerschaft hält den Deckel drauf. Alles läuft auf die Grünen hinaus, was angesichts von Wahlkampf und Basis allerdings eine gravierende Täuschung wäre. Merz, der schwarz-grüne Kanzler, kann das wirklich passieren?
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