Daniel Guagnin hat Soziologie und Informatik studiert und sich während seiner Promotion auf Techniksoziologie spezialisiert. Er ist aktiv im FIfF. Beruflich forscht und berät er am nexus-Institut in Berlin zu partizipativer Technikentwicklung.
Egal, ob wir über die (real existierende) totale Überwachung der Geheimdienste sprechen oder über Digitale Souveräntität und Digitale Mündigkeit oder auf dem Elternabend von Schule oder Kindergarten: Eine Diskussion lässt einerseits Augen rollen oder Achsel zucken und andererseits Bäuche krampfen oder auch Fäuste ballen. So trivial die Frage einer praktischen und allgemein leicht nutzbaren und möglichst weit verbreiteten Lösung für „Instant Messages“ (Kurznachrichten) in Menschengruppen scheint, so sehr treffen hier globale Machtstrukturen, Datenschutz, individuelle Überforderung, Unwillen, Kapitulation und Gleichgültigkeit aufeinander.
Muss ich jetzt wieder Querulant sein und alle damit nerven, dass ich kein WhatsApp nutzen will?
Muss der jetzt wieder nerven, mit seiner Verweigerungshaltung? Wegen des einen Querulanten müssen alle anderen jetzt noch eine von diesen nervigen (weil ungewohnten) Open-Source-Apps nutzen?
Einfach ja, ja und ja! Warum – anders als bei Querulanten – die „Klagen oder Beschwerden“ nicht unberechtigt sind: hier ein Plädoyer für die Unbeirrbarkeit. Auch wenn es unmöglich erscheint, allein das strukturelle Problem globaler Infrastrukturen zu lösen: Es lohnt sich doch, andere dafür zu gewinnen und langsam, aber sukzessive gemeinsam Netze zu bilden.
Technik ist faktisch auch Sozialstruktur
Technik kann als gesellschaftliche Struktur betrachtet werden, die Auswirkungen auf unser aller Leben hat. Ihre Beschaffenheit beeinflusst unsere Handlungen, über Menüführung, Bereitstellung und Vorgabe von Interaktionsmöglichkeiten und von Informationen. Technik kann aber bewusst gestaltet werden – mit wohlüberlegten Zielen. Ein Weg, gemeinschaftlich die Regeln der Funktionsweise von Software auszuhandeln, ist die Praxis ihrer gemeinschaftlichen Produktion, wie bei Freier/Open-Source-Software (FLOSS).
An einem kleinen Beispiel möchte ich illustrieren, warum es so wichtig ist, die Wahl zu haben und seine Wahl bewusst zu treffen. Durch die bestehenden Strukturen wie etablierte Technologien und Gewohnheiten ergeben sich soziale Zwänge. Gesellschaftliche Normalitäten, wie beispielsweise die Ausbreitung der Nutzung von vielfältigen Apps für ganz alltägliche Aufgaben, haben eine starke faktische Prägungskraft. Auch die massive Verbreitung von WhatsApp macht Menschen, die sich dem verweigern, in vielfältigen sozialen Zusammenhängen – vom Sportverein über Elterngruppen bis zum Familienchat – zu Querulanten.
Ganz selektiv greife ich wenige Aspekte aus der Diskussion WhatsApp vs. Signal heraus, um daran einerseits die Rolle der technischen Transparenz von FLOSS und andererseits Netzwerkeffekte von Technologien zu beleuchten. In dieser Hinsicht unterscheidet sich nämlich die Diskussion von der üblichen Frage des ethischen Konsums, da die Nutzung oder Nicht-Nutzung einer technischen Infrastruktur Auswirkungen auf andere Nutzer:innen hat.
Technische Transparenz sticht Datenschutzerklärung
Im Juni 2021 machte die hinter Signal stehende Organisation Open Whisper Systems auf sich aufmerksam mit einer Kampagne, die Werbekategorien von Meta sichtbar zu machen, die auf weitreichendem Tracking von Online-Verhalten basieren. Dies sollte auf potentiell problematische Wirkungen von „Online Behavioral Advertising“ hinweisen und damit Argumente liefern, warum die Messenger-App Signal die „bessere Alternative“ zu WhatsApp sei. Die geplante Signal-Werbung auf Instagram (sowohl WhatsApp als auch Instagram gehören zu Meta) sollte beispielsweise so aussehen:
Du bekommst diese Werbung angezeigt, weil du Lehrer bist, und vor allem, weil du Sternzeichen Löwe bist (und Single). Diese Werbung nutzt deine Location um zu sehen, du bist in Moskau. Du unterstützt gern Sketch-Comedy und diese Anzeige denkt, dass du dich gern als Drag-Künstler verkleidest.“ (Hervorgehobene Wörter sind individuelle Analyseergebnisse)
Die umfassenden Informationen über ihre Nutzer:innen erhält der Konzern Meta über die Analyse des Verhaltens in seinen sozialen Netzwerken Facebook und Instagram, aber – und das war eine Neuerung – auch nach Änderung der Nutzungsbedingungen (möglicherweise) durch die Nutzung von WhatsApp. An der verblüffenden Werbeanzeige – Meta bestritt, dass diese jemals versucht wurde zu schalten – zeigen sich zwei Dimensionen von gesellschaftlicher Kontrolle durch Technik:
- Wissen über die Bürger:innen: Besonders in autoritären Staaten wie beispielsweise Russland kann es zu Problemen führen, wenn Informationen über „anormales“ Verhalten – im Sinne der kulturellen und politischen Setzung des Normalen – bekannt werden,
- Beeinflussung: Das Ziel der Kampagnen ist die Beeinflussung von Konsumentscheidungen.
Bei der Übernahme von WhatsApp durch Facebook rangen die WhatsApp-Gründer im Jahr 2014 Mark Zuckerberg noch das Versprechen ab, fünf Jahre lang keine Monetarisierung von WhatsApp zu forcieren. 2018 verließ Brian Acton das Unternehmen, weil er die Verwertungspläne nicht mittragen wollte, und wechselte zu Signal. Ein Unternehmen ist frei in seinen Entscheidungen und folgt (meist) den Interessen der Kapitalvermehrung, diese Erfahrung hatte auch Brian Acton gemacht. Zusammen mit Moxie Marlinspike, dem Gründer von Open Whisper Systems, startete er die Signal Foundation, deren Mission lautet: „Protecting free expression and enable secure global communication through open source privacy technology.“
WhatsApp kann technisch betrachtet über die Telefonnummernabgleiche die sozialen Graphen ihrer Nutzer:innen analysieren und diese mit anderen Informationen ihrer Werbenetzwerke verbinden. Ungeachtet der Verschlüsselung der Inhalte der Nachrichten bringt dies weitreichende Informationen zutage, da allein die Häufigkeit und Länge von Nachrichten sowie ihre Zeitpunkte weitreichende Rückschlüsse über die Nutzer:innen ermöglichen.
Ob das wirklich getan wird oder nicht, lässt sich nicht so leicht abschließend beurteilen. Während Meta in den FAQ zu WhatsApp eindeutig sagt: „Wir bewahren keine Protokolle dazu auf, wer wem Nachrichten sendet oder wer wen anruft“, legen Investigativ-Recherchen nahe, dass genau dies beispielsweise zu einer Verhaftung einer Whistleblowerin geführt haben soll.
Seit nun sechs Jahren streiten Datenschutzjuristen über die Datenschutzkonformität der Dienste von Meta. Eine gründliche Untersuchung der zuständigen Datenschutzbehörde in Irland, ob WhatsApp personenbezogene Daten für Werbung, Marketing und Statistiken an Dritte weitergibt und inwieweit das im Einklang mit der Datenschutzgrundverordnung erfolgt, steht dabei immer noch aus.
Manipulative Effekte politischer zielgenauer Werbung wurden im Nachgang des Trump-Wahlkampfs am Fall von Cambridge Analytica diskutiert. Die Verstärkung von menschenverachtenden Gewaltspiralen von gezielten Empfehlungsalgorithmen auf Facebook wurde im Fall der Rohingya vor Gericht getragen, jedoch abgewiesen.
Während Datenschutzjuristen weiter darüber streiten, ob und in welcher Form nach EU-Gesetz unrechtmäßige Datenverarbeitungen stattfinden, wurde ein weiteres Gesetz verabschiedet: der Digital Services Act. Infolgedessen stehen weitere Veränderungen der Nutzungsbedingungen aus, die dem User die Entscheidung ermöglichen sollen, welche Daten nun wie zwischen den Meta-Diensten übertragen werden dürfen. Eine spannende Frage technischer Gestaltung wird sein, wie die Führung der Nutzer:innen Wahlfreiheiten gewährt und welche Anreize und technische Strukturen hier gesetzt werden.
Signal minimiert durch ausgefeilte technische Konzepte die Menge an Daten, um die deklarierte Mission zu erfüllen. Durch Konzepte wie „Private contact discovery“ oder „Sealed sender“ fallen nur minimale Daten an. Zudem dokumentiert Signal Rechtsanfragen und ihre Antworten, aus denen hervorgeht, dass außer dem Zeitpunkt der letzten Online-Verbindung einer Telefonnummer praktisch keine Daten vorhanden sind, die man mit den Behörden teilen könnte.
Dabei sind technische Konzepte und Wirkweisen öffentlich einsehbar. Design-Entscheidungen und Konzepte werden im Signal-Blog erläutert und in Github öffentlich diskutiert. Design-Entscheidungen, die eine kritische Masse an Kritiker:innen gefunden haben, wurden in einer Abspaltung (Fork) anderweitig umgesetzt. Beide Apps koexistieren und werden genutzt.
Alternativen
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Eigene Netzwerkeffekte entwickeln
Das ist nur ein Beispiel von Technik, das zeigt, wie weitreichend Entscheidungen hinsichtlich der Gestaltung von Technologie sein können. Auch die Gestaltung der Technologie-Governance ist hierbei ein wesentlicher Punkt, der für die Setzung der expliziten Ziele relevant ist. Es gibt selbstredend weitere andere Messenger, die in bestimmten Punkten Signal ausstechen können. Die Vielfalt Freier Software ist groß.
In Anbetracht der mächtigen Netzwerkeffekte scheint es oft wenig zielführend, kleine Nischenprodukte zu nutzen. Aber Netzwerkeffekte betreffen nicht nur die Nützlichkeit eines Messengers, also möglichst viele andere Nutzer:innen antexten zu können, sondern die Hegemonie einzelner Anbieter stärkt auch deren Marktmacht und birgt zentralisiert eine Menge Informationen.
Signal hat es vom Underdog-Projekt (ehemals „Textsecure“) geschafft, eine kritische Masse an Nutzer:innen zu gewinnen, um Netzwerkeffekte aufzubauen – und stellt diese in den Dienst der eigenen Mission: ohne Werbung und für Meinungsfreiheit. Dies zeigt, dass auch Nischenprodukte das Potential haben können, Massen zu überzeugen, und dass den Monopolen das Terrain streitig gemacht werden kann. Einen wichtigen Beitrag zum Erfolg tragen auch Nutzer:innen, die unermüdlich Überzeugungsarbeit leisten und die auch in Kauf nehmen, aus manchen WhatsApp-Zirkeln rauszufallen. Mittelfristig wird es auch nötig sein, die finanzielle Basis für den Betrieb der Software auszubauen, durch eine wachsende Zahl von freiwillig zahlenden Unterstützer:innen. Der Grundstein ist dafür gelegt.
Technische Governance gemeinsam aushandeln
Technikgestaltung ist politisch, ebenso die Nutzung von Technik, die Netzwerkeffekte mit sich bringt. Am Beispiel von WhatsApp und Signal wird deutlich, welche Vorteile Freie-Software-Ansätze bringen können: in der Zielstellung jenseits von Profitorientierung sowie der – zwar nicht machtfreien, aber nachvollziehbaren und nicht-absoluten – Governance und der Nachvollziehbarkeit der technischen Funktionsweise auf Basis des Software-Quellcodes. FLOSS-Strukturen können Vertrauen stiften, das über Datenschutzerklärungen und Beteuerungen hinausgeht.
Technische Entwicklungen erfordern oft, zwischen Werten und Zielen wie Komfort und Sicherheit abzuwägen. Dies wurde in Signal oder WhatsApp unterschiedlich getroffen. Die anfängliche Idee von WhatsApp, die Telefonnummer als Identifikationsträger zu nutzen, führte zur schnellen Verbreitung und Adaption von WhatsApp und verdrängte schließlich die SMS. Datenschutzrisiken wurden erst nach Snowden und durch die Entwickler von Signal (damals „Textsecure“) genauer adressiert, die quelloffene Verschlüsselungstechnologie wurde anschließend an WhatsApp weitergegeben.
Um überhaupt eine Chance zu haben, Netzwerkeffekte zu entwickeln und als WhatsApp-Alternative wahrgenommen zu werden, wurde die Identität auch bei Signal auf der Telefonnummer aufgebaut: eine Entscheidung, die in der netzpolitischen Community immer kritisch diskutiert wurde. Erst nach aufwendigen Design-Anpassungen konnte Signal nun erreichen, dass Signal-Kontakte auch ohne Telefonnummer über Usernames verbunden werden können.
Dies zeigt auch die Schwierigkeiten, initiale technische (Modell-)Entscheidungen zu einem späteren Zeitpunkt zu ändern. Implizite Annahmen (Telefonnummern sind praktisch) und explizite Anforderungen (Telefonnummern sind in manchen Ländern ein Problem) können sich über die Zeit ändern. Daher gilt es, die Änderungen von Normen und Zielstellungen zu adressieren. In Signal wurden Design-Entscheidungen kritisch diskutiert, es gab Abspaltungen, die andere technische Entscheidungen favorisierten. Schließlich wurde mit der Implementierung von Usernames statt Telefonnummern eine fundamentale Funktionalität umgearbeitet.
Sicherlich sind Community-Strukturen nicht die alleinige Lösung. Wünschenswert ist darüber hinaus ein methodisch begleiteter partizipativer Entwicklungsprozess. Aber Communities können so gestaltet und geführt werden, dass sie auch eine breitere Beteiligung erlauben und beispielsweise Endnutzer:innen strukturell einbinden. Eine wichtige Rolle spielen dabei auch die Diskussions- und Organisationsstrukturen, und auch diese sind veränderbar.
Die Organisation von Signal hat sich durch die Gründung der Signal Foundation geändert. Auch die Organisationsstruktur von WhatsApp hat sich von einem erfolgreichen Start-up in einen großen Konzern gewandelt. Signal blieb über die Jahre Freie/Open-Source-Software und somit frei für verschiedene Abspaltungen, die mit den Design-Entscheidungen von Signal nicht einverstanden waren.
Der Politik von Technik Rechnung tragen: Bildet Netze!
Die technischen Strukturen, die wir im Alltag nutzen, haben einen Einfluss auf unser Zusammenleben und schließlich auf die Governance, die hinter der Technologie steckt und essentielle Design-Entscheidungen trifft. Wir können versuchen, Technik partizipativ zu gestalten. Und wir können soziale Strukturen der Technikentwicklung gestalten und somit bewusst Werte in Technik wirksam werden lassen. Schließlich lohnt es sich zu streiten über die Herrschaft über Technologie, denn wertfreie Technik gibt es nicht.
Manchmal mag man sich allein fühlen bei der nächsten WhatsApp-Diskussion. Aber wir bleiben nicht allein, wenn wir gemeinsam Netze bilden. Jede:r kann dabei mitmachen. Und wenn es nur die Installation einer alternativen App ist – es ist ein Anfang. Jeder kleine Punkt im Netzwerk bildet neue Anknüpfungspunkte. So können wir dazu beitragen, Inseln zu bilden: Inseln der gemeinschaftlichen Aushandlung der (technischen) Regeln unseres Zusammenlebens.